Auf der Seite der Mächtigen

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Reiner Fröhlich

Reiner Fröhlich ist Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Kierspe im Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg.

Die Studie des Rates der EKD und der katholischen Bischöfe "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" beginnt, indem sie Grundannahmen der Vertreter der neoliberalen Wirtschaftsschule aus Chicago zitiert, dass nämlich die fortschreitende Globalisierung die Hauptursache für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit sei. (Dass es Venedig, Genua, die Portugiesen und Spanier in Amerika, die Holländer in Hinterindien, das britische Empire, die Industrialisierung im 19. Jh. gegeben hat, wird hierbei übersehen!) Die Studie zitiert danach das neoliberale Dogma, dass sich die Staaten (und nicht nur die Unternehmen) in einem internationalen Wettbewerb befänden (S.7).

Wenn diese beiden Thesen direkt am Anfang der Studie stehen, dann ist klar, wovon die Studie bestimmt ist: Die Globalisierung fordert es, dass die Staaten in einen Wettbewerb gegeneinander um die Gunst der großen Unternehmen gestürzt werden. Dem kann natürlich nur durch Wettbewerbsfähigkeit begegnet werden. Wettbewerbsfähigkeit bedeutet in der Praxis immer: soziale Errungenschaften und erkämpfte Rechte der Arbeitnehmer werden abgebaut! Dies sagt die Studie aber geflissentlich nicht, sondern beklagt es im späteren Teil!

Damit stellt sich das Papier schon am Anfang programmatisch eindeutig auf eine Seite, die Seite der großen Unternehmen und der Reichen. Man fragt sich mit großem Schmerz, ob dies bewusst geschieht oder ob die Kirchenoberen nicht wissen, was sie tun. Diese Positionierung auf Seiten der Mächtigen und Reichen wird dann in den einzelnen Kapiteln entfaltet.

Schon die biblische Fundierung (Orientierung aus christlicher Verantwortung) deutet diese Tendenz in erschreckender Weise an: Statt auf Texte der biblischen Rechtskorpora (Bundesbuch, Deuteronomium) und der biblischen Propheten zu verweisen, rekurriert die Studie auf die Geschichte von Kain und Abel, den barmherzigen Samariter und die Seligpreisungen (S. 11-13). Diese drei sind klassische Texte einer Individualethik. Sie enthalten keine einzige Konkretion der Gerechtigkeit, wie es die mit prallem diesseitigem Leben und Leiden gesättigten Texte des Alten Testaments enthalten. Den einen, dann doch zitierten Prophetentext Jes. 58, legt die Studie leider ebenfalls individualethisch aus. Sie verstümmelt ihn geradezu, indem sie den Kernvers weglässt: "Das aber ist ein Fasten, an dem ich gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!" Jes. 58, 6

Die Studie versucht dann, diese Engführung der Bibel durch die Rede von "Verantwortung für den Nächsten" zu kaschieren: "Gott ist Mensch geworden und hat sein Ebenbild, den Menschen, jedem Menschen zur Sorge und Verantwortung anvertraut" (S.12). Ebenso lässt sie hier und da den Ausdruck "Option für die Armen" fallen, ohne ihn konkret zu füllen.

Verschleiernde Argumentation statt Alternativen zur Ungerechtigkeit

Auf diese Weise entschärfen die Autoren die Einseitigkeit und Wucht der Bibel zum Thema "Gerechtigkeit" und können in der Folge nicht über allgemeine Klagen um soziale Missstände hinauskommen. Ein in der Bibel gegründeter Gläubiger kann nur den Kopf schütteln und fühlt großen Schmerz in seinem Herzen, wenn er dies mitbekommt.

Im 1. Kapitel (Gemeinsame Verantwortung heißt, wirtschaftliches Wachstum in den Dienst für den Menschen zu stellen) heißt es noch, dass das Primat der Politik gegenüber den Märkten gewahrt werden müsse. Dies exemplifiziert die Studie aber nur an der Finanzwirtschaft und bindet es zudem in eine "wettbewerbsorientierte globale Wirtschaft" (S.17) ein. Was dieses Primat der Politik bedeutet, bleibt leider völlig im Vagen.

Das 2. Kapitel (Gemeinsame Verantwortung heißt, die Soziale Marktwirtschaft nachhaltig weiterzuentwickeln) suggeriert durch die Überschrift, dass es in Deutschland noch eine soziale Marktwirtschaft gäbe. Es verharmlost die Wirtschafts- und Sozialpolitik des letzten Jahrzehnte - mit ihrem Abbau der Arbeitnehmerrechte und der Absenkung der meisten sozialen Standards - als Anpassung der sozialen Marktwirtschaft  "an veränderte Rahmenbedingungen" (S. 20). (Das ist der Originalton der neoliberalen Politiker aus FDP, CDU, SPD und Grünen!) Der Wohlstand Deutschlands sei erhalten geblieben (ebd.). (Dies ist die Sicht der bildungsbürgerlichen, gut bezahlten Kirchen - Oberen!)

Mit Mitgefühl konstatieren die Autoren aber auch, dass trotzdem die "ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen" (S.21) hat und dass darauf noch keine Antwort gefunden worden sei. Diese wachsende Ungleichheit geschah und geschieht genau wegen dieser Politik! Als scheinbare Antwort auf diese Ungleichheit beschreibt die Studie Bevölkerungsgruppen, die aus Lebensbereichen ausgegrenzt werden, namentlich die Migranten. Diesen müsse soziale Mobilität eröffnet werden.

Hier zeigt die Studie also in erschreckender Weise eine verschleiernde Argumentation: Die Frage der Ungerechtigkeit bei Vermögen und Einkommen wird nicht in Zusammenhang gebracht mit Alternativen zur ungerechten Politik der letzten Jahre (die sieht die Studie nicht!), sondern tastend und vernebelnd (man höre und staune:) mit Migranten und Ungebildeten, für welche eine soziale Mobilität eröffnet werden müsse. Statt Gerechtigkeit also: soziale Mobilität, wie auch immer diese ohne Gerechtigkeit erreicht werden soll.

An dieser Stelle liegt entweder Unverfrorenheit oder grobe Dummheit vor! Mit großem Schmerz um unsere Kirche lesen wir dies.

Im 3. Kapitel (Gemeinsame Verantwortung heißt, ordnungspolitische und ethische Maßstäbe für die Wirtschaft zu erneuern) beschreibt die Studie die Einführung des Prinzips der Haftung für die Finanzmärkte und fordert eine bessere Kontrolle der Finanztransaktionen. Die heutigen Probleme werden (wie oben beschrieben) hauptsächlich als Probleme der Finanzwirtschaft eingeschätzt, wo die Gier von Einzelnen durch strukturelle Versuchungen entfacht worden sein. Diese sollen durch Ordnungspolitik einen Rahmen bekommen, wobei im Dunklen bleibt, was das sein soll. Nur das Prinzip der Haftung wird explizit genannt (Bankenaufsicht, Verantwortungskultur).

Eine Sicht, dass Wirtschaft aus mehr als Finanzfluss besteht, suchen wir vergeblich. Durch diese Verengung der Ökonomie auf die Finanzwirtschaft wird wiederum die strukturelle Ungerechtigkeit des derzeitigen Wirtschaftsgebarens und der Wirtschaftspolitik ausgeblendet.

Im 4. Kapitel (Gemeinsame Verantwortung heißt, die Staatsfinanzen zu konsolidieren) beklagen die Autoren die hohe Verschuldung der öffentlichen Hand in Deutschland und im Gefolge der Finanzkrise von 2008 in ganz Europa. Sie zitieren den neoliberalen EU- Vertrag von Lissabon, in dem eine im hohen Maße "wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" gefordert wird, die auf Preisstabilität und Wirtschaftswachstum gründet. Die in Bund und Ländern verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse, die die Ausgaben der öffentlichen Hand immer mehr einschränkt und große Sparmaßnahmen notwendig macht, wird ausdrücklich begrüßt. Damit stellt sich der Rat der EKD auf die Seite der politischen Akteure, die die Lissabon - Strategie von 2000 und den EU - Vertrag von Lissabon 2008 geschrieben haben und diese in den europäischen Ländern durchsetzen.

Dass auch die Einnahmenseite bei den öffentlichen Kassen einbezogen werden muss, streift die Studie am Rande: Eine "laxe Steuermoral" und eine "wenig effektive … Steuerverwaltung in einigen EU-Ländern" (S. 30) müsse überwunden werden. Ein zwischenstaatlicher Abgleich von Steuerdaten wird favorisiert (ebd). Transnationale Unternehmen werden mit ihren Gewinneinkünften ebenfalls ganz vage erwähnt. Doch wird darauf verwiesen, dass auf jeden Fall eine gerechte Steuerpolitik nicht die großen Probleme lösen könne, sondern nur zu größerer Akzeptanz der erforderlichen Sparmaßnahmen (gemeint ist: bei den sozial Schwachen!) beitrage.

Viele Allgemeinplätze und das Gehabe einer paternalistischen Fürsorge für alle und alles

Auch hier stehen die Autoren klipp und klar auf der Seite der Mächtigen und Reichen: Eine gerechtere Steuerpolitik, die die großen Steuergeschenke der letzten 20 Jahre an die großen Unternehmen und die sehr Begüterten zurückdreht, ist nicht im Blick. Die Körperschaftssteuer wurde von 40 % auf 25 %, der Spitzensteuersatz von 53 % auf 42 % gesenkt! Diese Umverteilung von unten nach oben soll bleiben!

Nachdem dies festgeschrieben ist, kann die Studie darüber klagen, dass die notwendigen Bemühungen um eine Haushaltskonsolidierung nicht auf dem Rücken von Millionen von Menschen ausgetragen werden dürften, die sie nicht verursacht haben (S. 31). Ein Schuldenabbau auf Kosten der sozial Schwachen sei aus ethischer Sicht nicht hinnehmbar (ebd.).

Man fragt sich, ob die Autoren wissen, von was sie reden: Wenn sie A sagen (Lissabon und Neoliberalismus), dann müssen sie auch das B (auf Kosten der sozial Schwachen) in Kauf nehmen. Jede Zeile der Studie ist mit wachsendem Leiden und größer werdendem Schmerz zu lesen.

Die Kapitel 5 - 10 über Ökologie, Demographie, Inklusion, Erwerbsarbeit als gesellschaftliche Teilhabe, Bildung und europäische  Solidarität bringen dann noch viele Allgemeinplätze und das Gehabe einer paternalistischen Fürsorge für alle und alles. So viele Worte vernebeln aber durch die Vielfalt der vage berührten Themen das, worum es in der Studie gehen sollte: eine gerechte Gesellschaft! 

Im Abschlussabschnitt (Die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit) wird das zentrale Credo des neoliberalen Wirtschaftsmodell der Chicagoer Schule um F. von Hayek und M. Friedman zitiert: das irdische Leben leide unter notorischer Knappheit. (Das ist das Gegenteil von Gen. 1 und 2!) Die (gemeint ist: neoliberal umgeformte) Marktwirtschaft sei deshalb das beste Modell, um im Bereich des Materiellen eine Bedarfsdeckung zu organisieren (S. 57f). Die Studie appelliert (wohl im Rahmen dieses Wirtschaftsmodels) vage daran, die Tugenden der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit und des Maßhaltens nicht zu relativieren. Die Autoren hoffen, dass sie mit ihren  Gedanken einen Impuls geben konnten, dass andere die Frage beantworten, wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit (in den Herausforderungen der Globalisierung und unter dem Diktat des Wettbewerbs  der Staaten statt der Unternehmen!) zusammengedacht und zusammengebracht werden können.

Mit dieser Studie aber ist uns nur in kirchlichem Gewande präsentiert, was wir von fast allen politischen Parteien und aus fast allen Kanälen der Medien hören, mit ein bisschen Mitgefühl garniert. Ein neuer Impuls ist nicht feststellbar.

Man wollte lieber ein ausgewogenes Wort als sich wirklich auseinanderzusetzen

Man fragt sich mit Schmerzen, warum die Autoren keine Ökumenischen Kontakte in die Länder im Süden Europas und im Süden der Welt genutzt haben, um gemeinsam zu fragen, welches Wort von der Bibel her zum Thema "Gerechtigkeit" in unserem Land und in der Welt heute zu sagen ist. Die Kirchen in Übersee sehen hier viel klarer als eine verzagte deutsche Bischofs- und EKD-Ratsschar, die in gut situierten Verhältnissen lebt und nur einen kleinen Ausschnitt des Lebens mitbekommt. Aber in der weltweiten Diskussion zu diesen Themen ist die Meinung der deutschen Kirchen eine Außenseitermeinung (der noch gut situierten!). Deshalb scheute man anscheinend einen Austausch mit der weltweiten Ökumene.

Daneben gäbe es in Deutschland viele ökonomisch kundige Christen, die Abstand von der herrschenden Meinung des Mainstreams der Politik und der Medien haben und die die Fremdheit der Bibel als Kompass benutzen, um ein Wort ab extra nos zu sagen. "Kairos Europa" und andere wären hier zu nennen. Leider haben der Rat der EKD und die katholischen Bischöfe dies alles nicht genutzt. Man wollte lieber ein ausgewogenes Wort, als sich wirklich auseinanderzusetzen. Aber zu diesem Thema muss man sich erst einmal gehörig auseinandersetzen! Wenn man das nicht tut, kommt leicht eine Beweihräucherung der die Reichen und Mächtigen begünstigenden Politik und nur ein Beklagen der sozialen Schieflage heraus. Die Fremdheit der Bibel kann nur durch sperrige andere Schwestern und Brüder fruchtbar werden und einen Abstand vom Denken "der Welt" bewirken! Warum bleiben unsere Kirchenoberen in einer solche gutbürgerlichen Einsamkeit unter sich und laufen dann in eine solch riesige selbstgemachte Falle?

Die Propheten der Hebräischen Bibel haben solche beschwichtigenden, schlimmer noch: das Unrecht verschleiernden Worte der Priester in ihrer Zeit mit harschen Worten kritisiert.

Wenn man die Studie im Ganzen betrachtet, fragt man sich, warum Rat der EKD und die katholischen Bischöfe nicht lieber geschwiegen haben. Si tacuisses! Schweigen wäre besser gewesen als eine offene Positionierung auf Seiten der Mächtigen und Reichen.

Mit großem Schmerz müssen wir sagen: Im Zeitalter der Industrialisierung haben wir Kirchen versagt, weil wir auf der Seite der Mächtigen standen und einfach nicht gesehen haben, was in Wirklichkeit passiert. Wir dürfen die sozial Abgehängten doch nicht wieder im Stich lassen!

Wir müssen heute im Gebet darum ringen, dass Gott uns Klarheit schenkt, was heute in seinem Namen zu sagen ist. Jedenfalls nicht das, was wir im Text von EKD und katholischen Bischöfen lesen!

HERR, erbarme dich! Schick du uns Propheten, die uns und der Welt dein Wort ungeschminkt sagen und uns die Augen öffnen! HERR, erbarme dich über uns!