Freiheit und Gerechtigkeit: die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft als Herausforderung

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Markus Vogt

Markus Vogst ist Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raums.

I. Eine aktualisierende Anpassung wird den Herausforderungen nicht gerecht

Das Thema unserer ersten Gesprächseinheit "Freiheit und Gerechtigkeit: die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft als Herausforderung" bezieht sich auf die Kapitel 2 und vor allem 11 des ökumenischen Textes "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft". Der Bezug geht aber über diese Textpassagen hinaus: Das fast emphatische Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft ist der rote Faden des Textes.[1] Diese wird als "ein moralisch begründetes Sozialmodell, das tief in der europäischen Kultur wurzelt" (S. 58f) und als ein Grund für die in Deutschland bisher erstaunlich erfolgreiche Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise (S. 8) sei, apostrophiert.

Ich teile die zitierten Einschätzungen und halte die Fokussierung auf das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft sowie auf die ihm zugrunde liegende Spannungseinheit von Freiheit und Gerechtigkeit[2] für gelungen. Angesichts der abnehmenden Zustimmung zu diesem Modell in der deutschen Bevölkerung (nach einer Allensbacher-Umfrage sind fast 70% indifferent, nur 31% bewerten es positiv[3]) sowie angesichts seiner Fragilität im Blick auf neue Herausforderungen besteht Bedarf an einer solchen Grundlagenreflexion. Die Kritik an der "Trennung von Ökonomie und Moral" (S. 57 und 58) ist berechtigt, jedoch sehr allgemein formuliert.

Anzuerkennen ist auch, dass die Notwendigkeit einer "Erneuerung" (S. 59) des Modells sowie "Handlungsbedarf" in Bezug auf Finanzordnung, Inklusion, "gerechten und fairen Ausgleich" (S. 21) sowie die ökologische Herausforderung (S. 22) benannt werden. Allerdings bleiben die Stichworte hierzu recht blass, teilweise eher tugendethisch akzentuiert (z.B. in der Forderung einer "Kultur der Verantwortung" als Lösung der Finanzkrise; S. 20). Es werden starke ökologische Imperative formuliert, allerdings ohne sie ordnungspolitisch zu entfalten. Innovative Stichworte, wie z.B. "Beziehungswohlstand" (S. 22) werden genannt, ohne ordnungspolitische Konsequenzen (etwa in Bezug auf die Pflegearbeit, die weitgehend in Familien unter erheblichen Benachteiligungen geleistet wird) zu benennen. Es geht aus meiner Sicht nicht nur um eine aktualisierende Anpassung des Modells, sondern um eine grundlegende Weiterentwicklung.

II. Die fehlende Dialogperspektive schlägt auf Inhalt und Sprache zurück

Die überwiegende negative oder nicht vorhandene Reaktion auf den Text in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat primär mit seiner Sprachform zu tun. Viele Kritikpunkte wurden bereits benannt und sind auf der Webseite zur Ökumenischen Sozialinitiative dokumentiert, auch eine gemeinsame Stellungnahme von einigen hier anwesenden Kollegen der Arbeitsgemeinschaft katholischer Sozialethiker, in der wir eine Verlängerung der Konsultation gewünscht haben (was berücksichtigt wurde), aber auch eine Perspektive, was mit den Eingaben geschieht (was nicht berücksichtigt wurde). Durch die fehlende Perspektive für eine Aufnahme der Diskussionsimpulse ist der Eindruck entstanden, dass die Kirchenleitungen und ihre Experten bloß verkünden und nicht zuhören. Das unterläuft methodische Standards von Dialogprozessen zu sozialethischen Fragen, die sich im vergangenen Jahrzehnt auch international etabliert haben.[4] In kirchlichen Verbänden und unter den Kolleginnen und Kollegen entstand der Eindruck von Intransparenz und Nicht-gehört-werden sowie eines fehelenden Bezugs zu konkreten Schicksalen und "Gesichtern". Dies ist aus meiner Sicht einer der Hauptgründe, warum die ökumenische Sozialinitiative bisher kaum nennenswerte Resonanz gefunden hat.

Das dialogische Prinzip ist keine Äußerlichkeit, sondern berührt das Grundverständnis von Sozialethik und kirchlicher Verkündigung.[5] Sein Mangel zeigt sich auch in der weitgehend abstrakten Sprache, die zwar als Versuch, komplexe Probleme differenziert und ausgewogen zusammenzufassen, verständlich ist, die aber den Eindruck einer abgehobenen Ferne von den lebensweltlichen Erfahrungen kirchlicher Sozialarbeit erzeugt (dies war die entscheidende Rückmeldung von Verbandsvertretern, mit denen unter Mitwirkung von Herrn Dr. Belafi und mir in München ein Gespräch stattfand).

III. Abstrakte Belanglosigkeit des Freiheitsbegriffs und das Fehlen einer kohärenten theologisch-ethischen Argumentation

Insgesamt gewinnt man beim Lesen des Textes den Eindruck, dass Stichworte der aktuellen Debatte und sehr allgemeine Hintergrundüberlegungen kombiniert werden. Eine Argumentation im wissenschaftlichen Sinn findet sich kaum. Hier hätte eine thematische Fokussierung sehr hilfreich sein können. Es wird irgendwie Alles und Nichts gesagt. Insbesondere fehlt ein originärer theologischer Blick auf die Phänomene. Dies hätte sich gerade beim Freiheitsbe¬griff, der in der katholischen Tradition lehramtlicher Verkündigung wie wissenschaftlicher Sozialethik lange vernachlässigt wurde, angeboten. Die Dynamik der Freiheitsdiskurse entsteht aus der Erfahrung ihrer Fragilität sowie dem gesellschaftlichen Ringen um Emanzipation von den Mächten, die bedrohen.

"Die christliche Theologie hat nicht über eine Freiheit zu sprechen, die wir besitzen und über die wir verfügen könnten. Zu besprechen haben wir die Bedingungen und die Behinderungen der Freiheit, den täglichen Kampf um sie. Zur Debatte stehen die Dissonanzen und möglichen Widersprüche, die Spannungen einer wirksamen Freiheitsdynamik, auch deren Verlust und Begrenzungen."[6]

Der für die christliche Freiheitsrede entscheidende Schritt vom Leerlauf abstrakter Belanglosigkeit zu einer lebensweltlichen Bedeutsamkeit ist der Blick auf die konkreten Kontexte und Bedingungen ihres Vollzugs. Stets müssen Kontexte, Bedingungen und Hindernisse der Freiheit konkret benannt werden, wenn der Freiheitsdiskurs nicht entweder formalistisch-leer oder subjektbezogen-individualistisch verkürzt werden soll. Freiheit wird im Text lediglich als allgemeine Ordnungskategorie verwendet, nicht als emanzipativer Streitbegriff. Die Freiheitsrede wird vorschnell oder zumindest einseitig mit "Marktfreiheit" assoziiert (S. 20). Ihre Bewährungsprobe im Pluralismus ist nicht im Blick. Durch die fehlende Anwendung der Postulate auf die Kirche selbst sowie auf reale Machtverhältnisses entsteht der Eindruck abstrakter Unverbindlichkeit.

Die packende, konkrete und theologisch argumentierende Sprache des Apostolischen Schreibens "Evangelii Gaudium" atmet hier einen völlig anderen Geist. Dem Text der ökumenischen Sozialinitiative fehlt ein aus originärer theologisch-ethischer Begriffsklärung heraus argumentierender Zugang.[7] Vieles, was gesagt wird, ist zweifellos richtig und wichtig, aber so formuliert, dass es auch andere sagen könnten und die Adressanten nicht klar sind.

IV. Gerechtigkeitstheoretische Vertiefung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft darf nicht als mildere Variante des Kapitalismus verstanden werden, sie ist grundsätzlich anderer Natur.[8] Ihr liegt eine Werteordnung zugrunde, in deren Mittelpunkt die Idee der unbedingten Würde des Menschen sowie die Kombination von Freiheit und Verantwortung stehen. Damit beruht sie auf den Grundwerten einer freiheitlich-demokratischen Verfassung. Das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft entspricht mehr als jede andere Wirtschafts- und Sozialordnung dem Anspruch der Gerechtigkeit und wesentlichen Aspekten des biblischen Menschenbildes.[9] Man kann aus ihm Orientierung für eine schärfere Analyse gegenwärtiger Defizite sowie die stets nötige Weiterentwicklung gewinnen. Eine kirchliche Stellungnahme sollte m.E. viel stärker diese grundlegenden ethischen Leitbegriffe herausarbeiten und an ihnen für eine Weiterentwicklung Maß nehmen.

Die systemische Dominanz der Finanzmärkte hebelt das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft aus und unterwirft die gesamte Wirtschaft einer neuen Dynamik, die bisher nicht nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet ist. Angesichts dieser Herausforderungen genügt nicht eine Restauration, also die Wiederherstellung eines bekannten Modells. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine evolutionäre Ordnung, die nur auf der Basis substantieller Weiterentwicklung zukunftsfähig bleibt. Sie muss heute die Finanzmärkte in den Dienst realwirtschaftlicher Wertschöpfung stellten und bedarf einer Neujustierung des vielschichtigen Eigentumsbegriffs. Angesichts der ökologischen Herausforderung sind die Strukturelemente Freiheit, Wettbewerb und sozialer Ausgleich, die die Soziale Marktwirtschaft verbindet, um das vierte Element Naturverträglichkeit zu erweitern. Erst im Rahmen substantieller Weiterentwicklung zur Ökosozialen Marktwirtschaft kann das Modell heute Profil und Aussagekraft gewinnen.

V. Diskursbedarf angesichts der Vielfalt europäischer Kontexte

Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft im Lissabon-Vertrag von 2007[10] sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Modell auf europäischer Ebene bisher nur rudimentär umgesetzt ist. Dort werden die Elemente solidarischer Verteilung zunehmend auf die Gewährung von Chancengleichheit reduziert. Universalistisch orientierte Rechtsansprüche erhalten den Charakter bedingter Leistungen.

Als eine offene und spannende Frage für den wissenschaftlichen Disput um die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft empfinde ich die Anfragen von Stefano Zamagni, der in dem älteren Modell der Zivilökonomie eine Alternative hierzu sieht.[11] Diese sei stärker in die Unternehmens- und Wirtschaftspolitik sowie in das gesellschaftliche Leben integriert, also weniger etatistisch und staatsfixiert. Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft hat spezifische kulturelle und institutionelle Voraussetzungen, die in vielen Ländern nicht gegeben sind.

In der Enzyklika "Caritas in Veritate" werden einige Elemente der Zivilökonomie aufgegriffen und theologisch-ethisch vertieft.[12] Erstmals wird hier in einer Enzyklika eine Unternehmensethik entworfen, was bisher in der katholischen Soziallehre gefehlt hatte, was man jedoch durchaus als Anknüpfung an eine zentrale Komponente des ursprünglichen Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft, wie es in den 1940er Jahren in der Freiburger Schule entworfen wurde[13], verstehen kann.

Die hier nur angedeuteten Impulse könnten dazu dienen, die unterschiedlichen Erfahrungen in den Ländern und Kirchen Europas durch eine vertiefte sozialphilosophische und theologische Reflexion aufzugreifen und so einen originären Beitrag zur gemeinsamen Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft zu entfalten. Wenn die Ökumenische Sozialinitiative als Impuls für einen solchen europäischen auch akademisch flankierten Diskurs dient, wäre eine sinnvolle Perspektive gegeben.

[1] Vgl. Peter Schallenberg, Gemeinsame Verantwortung. Anmerkungen zur Ökumenischen Sozialinitiative, in: Die Neue Ordnung 12/2014, 404-413. [zurück]
[2] Vgl. dazu auch die Rede von Di Fabio beim Kongress zur Ökumenischen Sozialinitiative am 18. 6. 2014 in Berlin. [zurück]
[3] Vgl. Welt Online: Glaube an die Soziale Marktwirtschaft schwindet. [zurück]
[4] Z.B. 1984-86 in den USA, 88-89 und 2000-2003 in Österreich, 94-97 in Deutschland, 98-2003 in der Schweiz, 2006-2007 in Luxemburg. [zurück]
[5] Der Innovationsgehalt des methodischen Ansatzes von Gaudium et spes liegt genau darin, dass hier statt der abstrakten Beschreibung einer wünschenswerten Gesellschaftsordnung differenziert Bedingungen für soziale Entfaltung benannt werden. Dies gelte es, für unsere Zeit fortzuschreiben. [zurück]
[6] Häring, H. (2014): „So steht also fest!“ Freiheit als Maß allen Christseins, in: MThZ 3/2014, 178-196, hier 179. [zurück]
[7] Vgl. M. Vogt: Die Theo-Logik Christlicher Sozialethik, in: Platzer, J./ Zissler, E. (Hg.): Bioethik und Religion. Theologische Ethik im öffentlichen Diskurs, Baden-Baden 2014, 143-173 sowie M. Vogt, (Hg.): Theologie der Sozialethik (QD 255), Freiburg 2013. [zurück]
[8] Glück, A. (2011): Warum wir uns ändern müssen. Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur, München, S. 92. [zurück]
[9] Vgl. Vogt, M.: Soziale Marktwirtschaft im Anspruch des Aristotelischen Gerechtigkeitsmodells, in: Kirche und Gesellschaft 391, Köln 2012, 1-16. [zurück]
[10] Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union (2007): Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, C 306, 50. Jahrgang, 17. Dezember. [zurück]
[11] Bruni, L./Zamagni, S.: Zivilökonomie. Effizienz, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Paderborn 2013. [zurück]
[12] Z.B. in der Analyse und Forderung, dass das „Prinzip der Unentgeldlichkeit“ und die Logik des Geschenkes auch im normalen wirtschaftlichen Leben ihren unverzichtbaren Platz haben; vgl. Benedikt XVI. (2009): Enzyklika Caritas in veritate, Vatikan, Nr. 34-36. „Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem inneren kann der den Markt die ihm eigenen wirtschaftliche Funktion nicht erfüllen“ (Nr. 35). [zurück]
[13] Ob die Freiburger Schule, wie es meist geschieht, so eindeutig dem Protestantismus zuzuordnen ist, oder ob nicht bereits hier eine höchst produktive Begegnung und Verbindung der Konfessionen prägend wurden, ist ein Frage, die der vertiefenden Forschung wert wäre; vgl. Manow, P. (2008): Religion und Sozialstaat. die konfessionellen Grundlagen europäischer Wohlfahrtsregime, Frankfurt a.M./New York; Gabriel K. u.a. (Hg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa, Tübingen 2013. [zurück]