Gemeinsame Anmerkungen zur Sozialinitiative des ZGV

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Christian Schwindt

Christian Schwindt leitet das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Mainz).

Heike Miehe

Heike Miehe arbeitet im Referat Arbeit & Soziales im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Mainz).

Marion Schick

Marion Schick arbeitet im Referat Arbeit & Soziales im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Mainz).

Ralf Stroh

Dr. Ralf Stroh arbeitet im Referat Wirtschaft & Finanzpolitik im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Mainz).

Brigitte Bertelmann

Dr. Brigitte Bertelmann arbeitet im Referat Wirtschaft & Finanzpolitik im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Mainz).

Vorwort

Das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau mit Sitz in Mainz begrüßt grundsätzlich die Sozialinitiative der Kirchen „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“, insbesondere vor dem Hintergrund der EKD-Mitgliederstudie. Die Kirchen müssen sich in den gesellschaftspolitischen Diskurs einbringen und als Teil der Gesellschaft zu Wort melden. Dass dabei Inklusion und Partizipation die ethischen Leitbilder dieses Diskurses sein sollen (S. 42) ist ebenfalls sehr zu begrüßen.

Eine kritische Lektüre des vorgelegten Textes hat dazu geführt, dass verschiedene Kolleginnen und Kollegen des Zentrums ihre Anmerkungen noch einmal verschriftlicht haben. Im Folgenden sind diese (kritischen) Anmerkungen aufgeführt und verstehen sich als konstruktive Kritik an einem notwendigen Prozess.

OKR Christian Schwindt, Leitung ZGV

Anmerkungen I – Arbeit und Soziales und einige andere Punkte

Ebenen sind nicht stringent durchgehalten

Einerseits werden konkrete Änderungsvorschläge kommentiert und bewertet, die die Fachwelt z.T. deutlich anders einschätzt und bewertet, wie beispielsweise Auswirkungen der Hartz-Reformen S. 46.

Andererseits werden sehr globale Äußerungen gemacht, die oft sehr vage und unkonkret ausformuliert werden (Sachfragen und Orientierungsfragen werden oft nicht klar getrennt). Es ist nicht ersichtlich, aus welcher Perspektive argumentiert wird, sodass oft Aussagen zu konkreten Sachfragen mit allgemeinen Antworten belegt werden, die auch keine klare Orientierung erkennen lassen. (Beispiele: S. 25: „Wir als Kirchen haben nicht die Kompetenz, darüber zu urteilen …“ Warum nicht?; „Darüber, wie es zu nachhaltigen strukturellen Lösungen kommen kann, gehen die Meinungen noch auseinander …“ Ehrliche Antwort, aber wie können die Lösungen aussehen?…) Bis hin zu sozialpädagogischen Ratschlägen bei der frühkindlichen Bildung (S. 51: „Durch Formen aufsuchender Elternarbeit...“).

Welchem Bildungsbegriff folgt das Papier?

Auf S. 49 heißt es: „… durch Bildung die persönliche Entwicklung und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern.“ Auf S. 52: „Sie [Anm.: die Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen] müssen zur Weiterbildung ermutigt werden, um zu verhindern, dass ihre Potentiale ungenutzt bleiben.“ Persönlichkeitsbildung und berufsbezogene Bildung werden thematisiert, ohne jedoch auf ein grundlegendes Bildungsverständnis zur rekurrieren. Hier besteht die Gefahr, dass Bil-dung als „Gebrauchswert“ zu verstehen ist, um die Potentiale der Menschen ausschließlich in unserer Leistungs- und Wissensgesellschaft einzubringen. Im Gegensatz dazu hat bereits vor Jahren der ehemalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber auf Folgendes hingewiesen:
„Das Leben von Kindern darf nicht von Anfang an auf ihren Gebrauchswert reduziert werden. Wenn sie deshalb in ihrer Kindheit mehr gefördert würden, damit wir später mehr Facharbeiter haben, dann fände ich das eine unerträgliche ökonomische Reduktion des Menschen. Am Umgang mit Kindern entscheidet sich, ob wir die Würde des Menschen ernst nehmen“ (chrismon 02/2012).

Insgesamt bleibt das Wort einer sehr „ökonomischen“ Sprache verhaftet.

Inhaltliche Ausführungen bleiben oft zu neoliberal

Kritische Reflektionen auf gesellschaftliche Tendenzen werden nicht hinterfragt, insbesondere:

  • Thema „Hartz-Gesetze“

Insgesamt zu unkritisch werden die Auswirkungen der Hartz-Reformen bewertet. Die durch die Hartz-Gesetze mitbedingte steigende Anzahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Ausweitung von Minijobs, Zeitarbeit, 1-Euro-Jobs, Ich-AGs) werden widersprüchlich, einmal als Problem und andererseits als Brücke in regulär sozialversicherte Beschäftigung, gesehen. Diese Brückenfunktion wird in der Realität jedoch nicht erfüllt.

Hier teilen wir die Einschätzung des Bundes KDA, der in seiner Pressemitteilung „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ vom 28. Februar 2014 schreibt:

„Die Sozialinitiative signalisiert in ihren Ausführungen eine grundsätzliche Zustimmung zu den zu-rückliegenden Arbeitsmarktreformen, auch wenn sie konstatiert‚ ‚dass das angemessene Verhältnis von „Fordern“ und „Fördern“ aus der Balance geraten ist. Die Arbeitsmarktreformen des letzten Jahrzehnts haben nach Einschätzung des KDA aber auch problematische Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. Es hat sich eine „Hartz-IV-Ökonomie“ entwickelt, die sich von den allgemeinen Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten abgrenzt. Diese Parallelwirtschaft ist durch Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäuser gekennzeichnet. Sie ist eine Art von Pannendienst, der das Schlimmste verhindert, aber die Ursachen des Problems nicht beseitigt.“

Diese Parallelwirtschaft / Hartz-IV-Ökonomie versorgt seit Jahren mehr als 7 Millionen Mitbürger und Mitbürgerinnen. Diese sind auf diese armutslindernde Hilfe angewiesen, da die Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV-Regelsatz) nach wie vor unzureichend sind, um ein Leben in Armut zu verhindern.

Nach Berechnungen der Diakonie Deutschland (vgl. Stellungnahme bezüglich der Regelbedarfs-ermittlung in der Grundsicherung, vom 20. August 2013) müsste ein transparent, sach- und realitätsgerecht ermittelter Regelsatz für Alleinstehende deutlich über 400 Euro liegen. Die Diakonie stellt deshalb in ihrer Stellungnahme fest, dass damit die geltenden Regelsätze (Regelsatz 2014 = 391 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen) den vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. Februar 2010 formulierten Anforderungen an die Ausgestaltung und Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügen.

Zum selben Ergebnis kommt auch eine aktuelle Studie von Irene Becker u.a. vom März 2014. Wäre das vor 2010 angewandte Berechnungsverfahren nur in den vom Verfassungsgericht kritisierten Punkten korrigiert worden, hätte sich auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 ein Regelsatz von 393 Euro ergeben. Daraus wären nach Anpassung an die Preis- und Lohn-entwicklung bis zum 1. Januar 2014 424 Euro geworden (Irene Becker, Reinhard Schüssler: Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen, Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 298, März 2014).

Angesichts von 6.137.192 SGB-II-Leistungsbezieher/innen, die im Mai 2014 von diesen unzureichenden Hartz-IV-Regelsätzen leben müssen, ist die Sicht der Sozialinitiative auf den Bereich der Erwerbsarbeit, der mit dem Satz beginnt: „In Deutschland hat sich der Arbeitsmarkt in den letzten Jahren trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise positiv entwickelt“, eine stark nur auf statistische Arbeitsmarktzahlen verkürzte Sicht, die sich mit problematischen Entwicklungen in der Arbeitswelt (s.u.) und den prekären Lebenslagen der von Arbeit und Einkommen abgekoppelten Menschen zu wenig kritisch auseinandersetzt.

Eine positive Ausnahme dazu bildet die Kritik an der Instrumentenreform und die Forderung nach einer öffentlich geförderten Beschäftigung für Langzeitarbeitslose mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen (S. 46/47).

  • Thema „Rente“

Im Gegensatz zur Sozialinitiative sehen wir in der kapitalgedeckten Alterssicherung keine überzeugende Option für die Lösung der Absicherung im Alter, insbesondere für Frauen und Langzeitarbeitslose. Die Perspektive "Option für die Armen" fehlt in dieser Auseinandersetzung. Die Behandlung der Rentenfrage macht deutlich, dass die Initiative hinter ihrem Anspruch Orientierungswissen bereitzustellen zurück bleibt, weil sie in ihren Vorschlägen noch zu sehr den derzeit dominierenden Denkansätzen verhaftet ist, ohne Systemalternativen anzubieten (z.B. Bürgerversicherung).

  • Thema „Erwerbsarbeit“

Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschen-würde – und damit weit mehr als Erwerbsarbeit. Wie verändert sich die Arbeitswelt in einer ökologisch sozialen Marktwirtschaft, in der Wohlfahrtssteigerung nicht mehr gleichbedeutend ist mit steigendem Ressourcen- und Umweltverbrauch; in der die Entwicklung nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensstile auch zu einer neuen Bewertung von Arbeit führen muss? Welche Visionen haben Wissenschaft, Kirchen, Betriebe und Verbände für den anstehenden gemeinsamen Lern- und Entwicklungsprozess? Welches Verständnis von Arbeit brauchen wir in der Zukunft?

Dazu liefert uns die Sozialinitiative keine neuen Erkenntnisse. Wurde im Sozialwort der Kirchen von 1977 noch von einem Recht auf Arbeit und über die Notwendigkeit eines über die Erwerbs-arbeit hinausgehenden Arbeitsbegriffs (Ziffern 151, 152) gesprochen, fehlen solche Hinweise im neuen Text.
Auch problematische Tendenzen in der Erwerbswelt, wie zum Beispiel Entgrenzung von Arbeit, Mobbing, Burnout und Verdichtung oder steigende Sonntagsarbeitszeiten werden nicht thematisiert.

Heike Miehe und Marion Schick, Referat Arbeit & Soziales

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Zum Verhältnis von Initiative (2014) und Sozialwort (1997)


Anmerkung II - Zum Verhältnis von Initiative (2014) und Sozialwort (1997) sowie zum Thema Orientierungswissen

Die Sozialinitiative des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz greift explizit auf das Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ aus dem Jahre 1997 zurück und setzt dieses für die nun vorgetragenen Überlegungen als weiterhin grundlegend voraus. Das damalige Wort soll für die Herausforderungen, die sich nicht nur für Politik und Wirtschaft, son-dern die gesamte Gesellschaft aus der seit 1997 nochmals intensivierten Globalisierung ergeben haben, fruchtbar gemacht werden. Dem Selbstverständnis der jetzigen Initiative wird also nur eine Lektüre gerecht, die ihre Aussagen in den Argumentationszusammenhang des damaligen Wortes einordnet.

Die implizite Erwartung der Autorinnen und Autoren der jetzigen Initiative, dass dies auch tatsächlich geschehe, mag man als blauäugig einschätzen, aber zumindest war deren Erwartung, dass der jetzige Text als eine Ergänzung und nicht als ein eigenständiges Wort rezipiert und diskutiert werde.

Die ersten Reaktionen zeigen, dass die Rezeption nicht in der gewünschten Weise erfolgt. Faktisch wird der nun vorliegende Text als eigenständiges Wort rezipiert, das mit dem früheren Wort verglichen und nicht zusammen gelesen wird und bei diesem Vergleich natürlich offenbart, dass er entweder nichts Neues enthält oder sogar weniger sagt als das frühere Wort.

Solange kritische Äußerungen zur neuen Initiative sich darin erschöpfen, darauf hinzuweisen, dass sie nichts Neues oder sogar weniger sage, als das damalige Wort, gehen sie an der Intention der Autorinnen und Autoren vorbei.

Kritisch wäre hier nur – aber dies mit Nachdruck – zu fragen, ob diese Intention überhaupt die Rezeptionsbedingungen einer medialen Öffentlichkeit wie der unseren realistisch eingeschätzt hat und somit nicht auch selbst Verantwortung für vielfältige Missverständnisse trägt.

Eine aktualisierte Neuauflage wäre dienlicher gewesen

Möglicherweise wäre eine Einarbeitung der nun ergänzten Gesichtspunkte in den früheren Text – also gewissermaßen eine aktualisierte Zweitauflage – der Sache dienlicher gewesen. Deutlicher als im Sozialwort von 1997 ist die grundlegende Unterscheidung von Orientierungswissen und Sachkompetenz bzw. Kompetenz in Sachfragen hervorgehoben:

„Für die Bewältigung der Herausforderungen, vor denen wir stehen, bedarf es eines möglichst hohen Maßes an Sachkompetenz. Im Diskurs um Sachfragen müssen die besten Lösungen gefunden werden. Hinter den Sachfragen stehen aber immer auch Orientierungsfragen, die ebenfalls zu reflektieren sind. Welchen Zielen soll wirtschaftliches Handeln dienen? Und welche Priorität kommt den jeweils unterschiedlichen Zielen zu? Um für diese Fragen eine Basis zu gewinnen, bedarf es ethischen Orientierungswissens. Eine Gesellschaft tut gut daran, solches Orientierungswissen zu pflegen und weiterzuentwickeln. Wir wollen im Folgenden einen Beitrag zu dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe leisten, indem wir einige wesentliche Gesichtspunkte zum Ausdruck bringen, die für die auf der biblischen Überlieferung gründende christliche Tradition von besonderer Bedeutung sind. Ihre ethischen Konsequenzen sind auch jenseits religiöser Überzeugungen nachvollziehbar. Wir sind deswegen überzeugt davon, dass sie nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen guten Willens von besonderer Relevanz sind.“ (Initiative, S. 11)

Der Ausdruck „Orientierungswissen“ wird in diesen einleitenden Sätzen als grundlegender terminus technicus für den Status der vorgelegten Erwägungen in Anschlag gebracht. Er wird dort zweimal verwendet – und im weiteren Text kein einziges weiteres Mal! Ob mit diesem nur äußerst knappen Hinweis schon hinreichend klar ist, was gemeint ist, darf bezweifelt werden.

Im Sozialwort von 1997 kommt der Ausdruck „Orientierungswissen“ kein einziges Mal vor. Auch der terminus technicus „Sachkompetenz“ fehlt komplett.
Dort – wie auch an vielen Stellen der neuen Initiative – findet sich aber die Rede von „Orientierung“ bzw. von „Neuorientierung“ oder „Wertorientierung“ bzw. „Grundorientierung“ (dies lediglich in der neuen Initiative). Der Ausdruck „(Neu-/Wert-)Orientierung“ findet sich fünfzehnmal im Sozialwort und fünfmal in der Initiative (inklusive „Orientierungswissen“, „Orientierungsfragen“ und „Grundorientierung“).

Das programmatische Selbstverständnis des Sozialworts von 1997 findet sich auf Seite 4:

„Geleitet und ermutigt durch das christliche Verständnis vom Menschen, durch die biblische Botschaft und die christliche Sozialethik wollen die Kirchen ihren Beitrag zu der notwendigen Neuorientierung der Gesellschaft und Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft leisten.“ (Solidarität und Gerechtigkeit, S. 4)

Der Sache nach beinhaltet dieses Selbstverständnis zwar schon die Unterscheidung von Orientierungswissen und Sachwissen, worauf auch die Initiative selbst hinweist:

„Die Frage, wie auch unter sich verändernden sozialen Verhältnissen die Werte der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit im Blick behalten werden können, hat uns schon beim Gemeinsamen Wort 1997 beschäftigt; sie ist auch die Leitfrage dieser gemeinsamen Thesen, und genau hier sehen wir unseren besonderen gesellschaftlichen Auftrag als Kirchen. Wir beanspruchen keine herausgehobene Kompetenz in ökonomischen oder technischen Sachfragen, und wir verfolgen auch kein bestimmtes politisches Programm. Aber der biblische Schöpfungsauftrag, die Erde zu hüten und zu bebauen (Gen 2,15), die Frage Gottes an den Menschen „Wo ist dein Bruder Abel?“ (Gen 4,9) und das Gebot christlicher Nächstenliebe, das am Beginn der Gleichniserzählung vom Barmherzigen Samariter aus dem Neuen Testament ins Gedächtnis gerufen wird, haben stets auch eine soziale und politische Dimension.“ (Initiative, S. 13)

Dennoch ist es ein Vorzug, nicht nur von Orientierung als Beitrag der Kirchen zu reden, sondern von Orientierungswissen. Warum? Das Angebot, Orientierung zu bieten, lässt sich von den Adressaten des Wortes mit Hinweis auf ihr vorhandenes Sachwissen als überflüssig ignorieren oder als unange-messenen Übergriff kirchlichen Engagements zurückweisen.

Die These, jegliches Sachwissen benötige Orientierungswissen als seinen Rahmen, nötigt dagegen dazu, entweder explizit zu behaupten, Sachwissen sei ipso facto stets auch zugleich Orientierungs-wissen oder aber offenzulegen, welches Orientierungswissen anstelle des christlichen Wirklichkeits-verständnisses leitend ist und woher es bezogen wird.

Die Rede von Orientierungswissen nötigt den Gesprächspartner dazu, sein Verständnis von Wissen offenzulegen – und natürlich nötigt es auch die Kirchen offenzulegen, in welcher Beziehung das von ihnen angebotene Orientierungswissen zum Sachwissen steht.

Allerdings ist gerade deswegen misslich, dass der Ausdruck Orientierungswissen gewählt wurde und nicht der hier eigentlich einschlägige terminus technicus Orientierungsgewissheit. Der Ausdruck Ori-entierungswissen erweckt den Eindruck, als handele es sich bei der zur Orientierung herangezogenen Instanz lediglich um einen inhaltlich anders ausgerichteten Bereich des Wissens, der dem Fach- und Sachwissen zur Seite gestellt werden muss, damit dieses seine volle Bedeutung entfalten kann.

Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik

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Anmerkungen III - Ein Kommentar zu vier Thesen der Sozialinitiative

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz melden sich 17 Jahre nach der Veröffentlichung ihres gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland wieder zu Wort, weil sie in der noch wesentlich stärker als damals von der Globalisierung geprägten und von den Finanzmärkten dominierten Welt „viele und tiefgreifende Veränderun-gen und neue Herausforderungen“ sehen. Sie betonen insbesondere die enge Verbindung zwischen der wachstumsgetriebenen Geld- und Finanzmarktpolitik und der damit verbundenen Ausbeutung von Mensch und Natur, die zu globalen Umweltproblemen, insbesondere Klimawandel und steigen-den sozialen Ungleichgewichten und einer Gefährdung der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit führen.

Nach dieser Einleitung erscheint es zumindest erstaunlich, dass die erste These zwar einerseits sehr klar auf einen „notwendigen Neubau unseres Wirtschaftssystems“ und erforderliche „ordnungspolitische Weichenstellungen“ verweist, andererseits aber wirtschaftliches Wachstum „im Dienst des Lebens“ fordert, ohne dass dieser Widerspruch deutlich benannt wird. An der kritischen Auseinandersetzung mit dem Zwang zu wirtschaftlichem Wachstum und den bekannten Folgen beteiligen sich auch kirchliche Einrichtungen, Gremien und geistliche Leitungspersonen auf verschiedenen Ebenen seit Jahren. Hinter den Stand, wie er z. B. in der Denkschrift „Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels“, die 2009 vom Rat der EKD veröffentlicht wurde, oder die Debatten im Rahmen des Transformationskongresses, zu dem Einrichtungen der EKD zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Deutschen Naturschutzring 2012 in Berlin eingeladen hatten, sollten wir, um als Gesprächspartner für Politik und Wirtschaft ernst genommen zu werden, nicht zurückfallen.

Genauso wenig darf der Verweis darauf, dass die geforderten „ordnungspolitischen Weichenstellungen allein national nicht greifen können“, Grund dafür sein, die Suche nach Alternativen angesichts der bestehenden Machtungleichgewichte, konkret der Dominanz der Finanzmärkte und der Abhängigkeit nicht nur der Realwirtschaft sondern auch der Staaten von Kapitaleignern und Finanzinstituten, vorschnell als unrealistisch, weil schwer durchsetzbar, beiseitegeschoben werden. Diese Debatte muss vielmehr intensiv und konstruktiv vorangetrieben werden. Auch das ist gemeinsame Verantwortung.

Wenn Geld bzw. Kapital „eine strikt dienende Funktion“ zur Unterstützung wirtschaftlicher Aktivitä-ten, die die Lebensmöglichkeiten aller Menschen sichern bzw. verbessern, haben soll, dann muss eine offene Debatte darüber geführt werden, wie der für diesen Zweck viel zu große, selbstreferenzielle Finanzsektor auf ein für die Realwirtschaft gesundes Maß zurückgeführt werden kann. Studien, wie die des European Systemic Risk Board, die sich mit der Frage „Is Europe Overbanked?“ auseinandersetzt, müssen dabei ebenso mit einbezogen werden, wie wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Möglichkeiten der weitgehenden Abschaffung oder doch signifikanten Begrenzung der Giralgeld-schöpfung im Bankensektor befassen und das Recht zur Geldschöpfung allein bei der Zentralbank belassen wollen.

Strukturelle Zusammenhänge transparenter und offener diskutieren

In These 2 „Gemeinsame Verantwortung heißt, die soziale Marktwirtschaft nachhaltig weiterzuentwickeln“ wird deutlich, dass damit zwangsläufig der Abbau gravierender Ungleichgewichte sowohl auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene einhergehen muss. Angesichts der systemisch be-dingten wachsenden Ungleichverteilung von Vermögen und einer zunehmenden Vermögenskonzentration bei einem sehr kleinen Prozentsatz von Privatpersonen, müssen diese Zusammenhänge besser erforscht und z. B. in den Armuts- und Reichtumsberichten transparenter dargestellt werden. Das gilt auch für die Notwendigkeit, dass die wohlhabenden Länder sich in sehr viel stärkerem Maße als bisher dafür verantwortlich fühlen und mit entsprechendem Ressourceneinsatz daran beteiligen, insbesondere in den ärmsten Ländern eine nachholende Entwicklung zu ermöglichen. Dies kann nicht allein nach den derzeitigen Wettbewerbsregeln und überwiegend über Kredite gelingen, die lediglich zu einer weiteren Überschuldung wirtschaftlich schwacher Länder führen.

Für ein Geld- und Finanzmarktsystem mit „dienendem Charakter“ brauchen wir Banken, die dazu beitragen, die Wirtschaft zu stabilisieren und nicht Finanzinstitute, die aufgrund ihrer starken Verflechtung, ihrer intransparenten Risikostruktur und aufgrund ihrer Größe strukturell unkontrollierbar sind und ein systemisches Risiko für ganze Staaten darstellen.

Die nötigen Instrumente für ein „Downsizing“ im Bankensektor sind oft genannt worden. Auch hier geht es primär um die Frage, wie demokratisch legitimierte, politische Regulierung und Kontrolle durchgesetzt werden kann.

Die Rolle der Kirchen in diesem Kontext kann zwar auch das Erinnern an bereits bekannte Vorschläge und Alternativen zur Lösung der genannten Probleme sein. Vor allem könnten die Kirchen dazu beitragen, dass die strukturellen Zusammenhänge transparenter und offener diskutiert werden und die Interessenkonflikte und Ängste, die dem von der Sozialinitiative geforderten „Neubau unseres Wirt-schaftssystems“ im Wege stehen, benannt werden.

Dazu gehört dann auch eine Debatte darüber, wie neue öffentliche Aufgaben wie Klimastabilität, Schutz der Artenvielfalt, Schutz der Weltmeere, ebenso wie die Gewährleistung von gerechten Entwicklungschancen, Partizipation und Teilhabe für möglichst alle Menschen in einer globalisierten Welt institutionell und strukturell unterstützt und gewährleistet werden können und wie die damit verbundenen Kosten gerecht verteilt werden. Dabei dürfen auch die Besteuerung hoher Vermögen und eine höhere Besteuerung großer Erbschaften ebenso wie eine umfassende Besteuerung von Finanztransaktionen und die gleichmäßige Besteuerung aller Einkunftsarten kein Tabu sein, um auf der anderen Seite kleine und mittlere Einkommen entlasten zu können.

Auch hier geht es aber nicht darum, dass sich die Kirchen für einzelne steuerpolitische Instrumente einsetzen sondern dass sie dazu beitragen, dass die grundlegenden Verteilungs- und Machtungleich-gewichte offen angesprochen werden und in fairen Debatten nach Lösungen gesucht wird. Es geht nicht um Parteipolitik oder darum, die Regierung der Großen Koalition zu unterstützen, wie dies von einigen Kommentatoren unterstellt wurde. Es geht darum, wie dies bereits im gemeinsamen Wort von 1997 der Fall war, eine gemeinsame Wertebasis auszuloten und zu beschreiben und das wirtschaftliche und politische Handeln darauf auszurichten.

Dr. Brigitte Bertelmann, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik