Kommentar zum gemeinsamen Sozialwort der Kirchen
Inhaltlich übereinstimmend (und uneingeschränkt zustimmungswürdig) steht in beiden Sozialworten, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen soll und sich dafür an ethischen Kriterien messen lassen muss. Aus der biblisch-christlichen Tradition werden als solche Kriterien insbesondere Solidarität, Subsidiarität, Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Menschenwürde sowie die Option für die Armen genannt. Dabei wird betont, dass die individualethische Perspektive stets durch die sozialethische Frage nach gerechten Strukturen ergänzt werden muss. Die Soziale Marktwirtschaft wird als bestmögliche Wirtschaftsordnung betrachtet, die im Blick auf aktuelle Herausforderungen weiterzuentwickeln ist.
Dazu gehören insbesondere eine bestimmte Rahmenordnung, durch die eine Marktwirtschaft erst gemeinwohldienlich wird, sowie die sozialstaatlichen Strukturen. Überschattet von der Erwartung demographisch bedingter Finanzierungsprobleme steht bei der Frage nach der Weiterentwicklung sozialstaatlicher Strukturen das Ziel einer Bekämpfung der wachsenden Armut, verstanden als Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe (insbesondere im Blick auf Arbeitslosigkeit), im Vordergrund. Eine Finanzierung durch weitere Staatsverschuldung wird unter Berufung auf Generationengerechtigkeit abgelehnt. Die Soziale Marktwirtschaft soll zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelt werden. Die positive Bedeutung des Zusammenwachsen Europas wird ebenso betont wie die Verantwortung der reichen Länder für die armen Länder sowie die Verantwortung der Kirchen, auch ihr eigenes Handeln an den von ihnen formulierten Werten messen zu lassen.
Tendenziell hinter dem aktuellen Diskussionsstand zurück
Einige der genannten Themen, die im alten Sozialwort differenziert betrachtet wurden (z.B. Armutsdefinition, Ursachen von Arbeitslosigkeit, Stärken und Schwächen der Marktwirtschaft, Subsidiaritätsbegriff, theologischer Hintergrund der Option für die Armen, christliches Menschenbild, politische Ursachen für Finanzierungsdefizite der Sozialversicherungen) bzw. die im alten Sozialwort mit konkreten Inhalten gefüllt wurden (z.B. Verantwortung der Kirchen, Entwicklungshilfe, Globalisierung, Familienförderung), werden im neuen Sozialwort leider nur schlagwortartig angesprochen. Das wirkt sich inhaltlich negativ auf bestimmte Passagen im neuen Sozialwort aus, wie beispielsweise das unkritische Lob auf die Marktwirtschaft und den aktivierenden Sozialstaat oder das Desinteresse am Phänomen der verdeckten Armut.
Eigene inhaltliche Akzente setzt das neue Sozialwort durch die erwartungsgemäße Aufnahme der aktuellen Themen Finanzmarktkrise, Euro-Schulden-Krise und Klimawandel (die wichtigsten Gedanken dazu findet man interessanterweise auch schon im alten Sozialwort). Aus diakonischer Sicht überraschend, wenn nicht ärgerlich, wirkt die naiv-positive Bewertung der Hartz-Gesetze (trotz allgemein bekannter statistischer Schönfärberei) und der Schuldenbremse, das einseitig-übertriebene Zutrauen auf Bildung als Lösung für (strukturelle) arbeitsmarktpolitische Probleme sowie die Verharmlosung der Themen Altersarmut und prekäre Beschäftigung. Auch im Blick auf die Themen Rentenpolitik (alternativlose Absenkung des Rentenniveaus) und Mindestlohn bleibt das neue Sozialwort tendenziell hinter dem aktuellen Diskussionsstand zurück und rechtfertigt eine problematische Politik. Ein kleiner Lichtblick ist die Kritik an der Instrumentenreform und das Bekenntnis zur Notwendigkeit öffentlich geförderter Beschäftigung für Langzeitarbeitslose mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen (das man allerdings auch schon im alten Sozialwort findet).
Ein Verzicht auf die Fruchtbarmachung des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs
Das neue Sozialwort reicht mit seinen zurückhaltenden Formulierungen nicht an die klaren und einprägsamen Aussagen des alten Sozialworts heran, das nicht zufällig auch noch 17 Jahre nach Erscheinen gerne zitiert wird. "Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit." "Nicht nur Armut, auch Reich¬tum muss ein Thema der politischen Debatte sein." "Es gibt eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums." "Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird." "Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen." "Dass das Eintreten für Solidarität und Gerechtigkeit unabdingbar zur Bezeugung des Evangeliums gehört und im Gottesdienst nicht nur der Choral, sondern auch der Schrei der Armen seinen Platz haben muss." Sätze wie diese sucht man im neuen Sozialwort leider vergebens.
Eine entscheidende inhaltliche Schwäche des neuen Sozialworts gegenüber dem alten liegt im Verzicht auf eine Fruchtbarmachung des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs: des Gedankens, dass jeder Mensch Rechte hat, insbesondere das Recht auf ein Leben in Würde, und dass es darum geht, Entrechteten zu ihrem Recht zu verhelfen. Daraus lassen sich unüberbietbar Menschenrechte und der recht verstandene Sozialstaatsgedanke ableiten. Darum spricht beispielsweise das alte Sozialwort vom Recht auf Arbeit (vor dem Hintergrund eines nicht auf Erwerbsarbeit reduzierten Arbeitsverständnisses), während sich beim neuen Sozialwort eher das Gefühl aufdrängt, dass es darum geht, dass sich niemand der Pflicht zur Arbeit und zur permanenten Weiterqualifizierung gemäß den Interessen der Industrie entziehen darf. Zum Schluss geht das alte Sozialwort ausführlich auf die gesellschaftliche Bedeutung der diakonischen und caritativen Arbeit der Kirchen ein. Auch davon findet sich leider nichts im neuen Sozialwort.