Mehr Mut zu einer kritischen Analyse der Wachstumsproblematik
Mit Freude haben wir, das Beuroner Forum, die Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Titel "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" zur Kenntnis genommen. Es steht den beiden Kirchen gut an, sich unter den originär biblischen Fragestellungen nach der Verantwortung für die uns anvertraute Schöpfung (Gen 2, 15) und den mit uns lebenden Mitmenschen (Gen 4, 9) in die Diskussion über eine gesellschaftliche Transformation, die dem Leben dient, einzubringen und diese aktiv zu befördern.
Wir erwarten von einem solchen gemeinsamen Sozialwort beider Kirchen weniger die zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen notwendige Sachkompetenz (Ökonomie, Ökologie, ...) als vielmehr dass unermüdlich Stellen von Richtungs- und Orientierungsfragen nach der tatsächlichen Zielsetzung wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns sowie richtungsweisende Impulse zur Beantwortung dieser Fragen.
Die Infrage-Stellung gegenwärtiger gesellschaftlicher Werteorientierungen setzt den Mut zu einer kritischen Gegenwartsanalyse voraus. Bereits 1980 formulierte Erich Fromm in einem Interview in "Die Zeit": "Unsere Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, das Ziel des Lebens sei die größere Produktion und die größere Konsumption. Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Nicht der Mensch!" Daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts Grundsätzliches geändert. Im Gegenteil: Die zunehmende Entfremdung des Einzelnen von seiner natürlichen und sozialen Umgebung und die damit verbundene Sinn-Leere machen deutlich, dass ein rein produktions- und konsumorientierter Lebensstil die originäre Bedürftigkeit des Menschen fundamental verfehlt, und ihn darüber hinaus daran hindert, das ganze Spektrum seiner menschlichen Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten.
Die Wachstumsstrategie westlicher Industrienationen überfordert die natürlichen Grenzen unseres Planeten
Eine kritische Gegenwartsanalyse muss darüber hinaus zum Wachstumsparadigma unserer heutigen Wirtschaftsweise Stellung nehmen. Heute, 42 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches "Die Grenzen des Wachsums" (1972) zeigen neu erhobene empirische Daten die Gültigkeit der damals formulierten Prognosen zur Entwicklung einer Welt unter dem Wachstumsprinzip (Turner 2008, 2012). Unsere Welt befindet sich gegenwärtig genau auf dem damals für das Szenario des "Business as usual" prognostizierten Entwicklungspfad. Diese sehr ernüchternden Ergebnisse müssen irritieren und in ihrer Tragweite in den gesellschaftlichen Diskurs Eingang finden.
Gleichzeitig machen sie unzweifelhaft klar, dass eine Fortführung der Wachstumsstrategie westlicher Industrienationen die natürlichen Grenzen unseres Planeten in unumkehrbarer Weise überfordert und damit künftige Generationen ihrer natürlichen Lebensgrundlagen beraubt. Der globale Klimawandel und seine mittlerweile deutlich sichtbaren Folgen zeigen, dass die Grenzen der Belastbarkeit unserer Umwelt bereits heute überschritten sind und wir diese Belastungen erheblich reduzieren müssen (Meadows et al. 2004).
In der Konsequenz dieser Befunde sollten die beiden Kirchen zu einer Transformation unserer gegenwärtigen sozial orientierten Marktwirtschaft in eine Postwachstumsgesellschaft ermuntern, die in ihrer Orientierung sozial und ökologisch ausgerichtet ist. Wir vermissen im Ausgangstext der Initiative klare Aussagen zur Wachstumsproblematik und zur Notwendigkeit des Umsteuerns. Dieses Umsteuern muss nicht nur aufgrund der rapide zunehmenden Umweltschäden erfolgen, sondern auch deswegen, weil das Wachstumsprinzip den "inneren" Menschen deformiert und ihn stattdessen von außen gesetzten Zwecken unterwirft. Dies negiert das Wesen des Menschen als Teil der göttlichen Schöpfung (Fromm 1976).
Es gibt genügend Ansatzpunkte für ein derartiges Umsteuern hin zu einer Postwachstumsgesellschaft (z.B. Jackson 2011, Miegel 2014, Seidl und Zahrnt 2012). Ihnen muss jedoch mehr Wirkkraft verliehen werden. Hierzu können die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten. Ganz konkret täten kirchliche Institutionen beispielsweise gut daran, "Experimentierorte" für den gesellschaftlichen Umbau hin zu einer Postwachstumsgesellschaft zu bieten.
Dresden/ Montreal/ Zürich, den 12. Juni 2014
Dorothea Bleyl, Dresden
Jochen Jaeger, Montreal
Martin Scheringer, Zürich
Beatrix Falch, Zürich
Kristine Schaal, Frankfurt
Martin Baudach, Itzehoe
Christine Feller, Kitzingen
Johannes Feller, Kitzingen
Eiko Allmann, Augsburg
Wolfgang Ihra, Basel
(Mitglieder des Beuroner Forums)
Zitierte Literatur
- Evangelische Kirche in Deutschland, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hg. (2014): Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung. Gemeinsame Texte 22. Hannover und Bonn.
- Fromm, E. (1976): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft.
- Jackson, T. (2011): Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Oekom, München.
- Meadows, D.H., Meadows, D.L., Randers, J., Behrens_III, W.W., 1972. The Limits to Growth: A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. Universe Books, New York.
- Meadows, D.L., Behrens_III, W.W., Meadows, D.H., Naill, R.F., Randers, J., Zahn, E.K.O., 1974. Dynamics of Growth in a Finite World. Wright-Allen Press, Inc, Massachusetts.
- Meadows, D.H., Randers, J., Meadows, D.L., 2004. Limits to Growth: The 30-Year Update. Chelsea Green Publishing Co., White River Junction, Vermont.
- Miegel. M. (2014): Hybris. Die überforderte Gesellschaft. Propyläen, Berlin.
- Seidl, I., Zahrnt, A., Hg. (2012): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Metropolis.
- Turner, G.M. (2008): A comparison of The Limits to Growth with 30 years of reality. Global Environmental Change 18: 397-411.
- Turner, G.M. (2012): On the cusp of global collapse? Updated comparison of The Limits to Growth with historical data. GAIA 21(2): 116-124.
Kommentare
"Laberei"
Es muss nicht gesprochen und diskutiert werden, oder gar neuer Raum geschaffen werden, um zu experimentieren, es muss entsprechen der aktuellen Erkenntnisse gehandelt werden. Wovor haben die Eliten solche Angst, dass sie Veränderungen im Sinne der Menschheit nicht vollziehen wollen?