"Zeugnis der Selbstunterwerfung einer moralischen Macht"

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Kommentar zum gemeinsamen Sozialwort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz vom 28.2.2014

Das neue Papier der Führungsebene der deutschen Protestanten und Katholiken ist alles andere als ein kritisches, mutiges oder prophetisches Wort, sondern ein Zeugnis der Selbstunterwerfung einer moralischen Macht unter den Fetisch des Kapitals im Namen der „Sozialen Marktwirtschaft“. Es ist ein Musterfall der „Deutschen Ideologie“, ja von Ideologie als „notwendig verkehrtem Bewußtsein“ (Marx) überhaupt.

Mit Bezug auf die christliche Wirtschaftsethik und die christliche europäische Kultur wünscht man sich eine Wirtschaft, deren Ziel es sei, „die menschliche Entwicklung insgesamt zu befördern, Armut zu beseitigen, reale Freiheiten der Menschen zu vergrößern und so das Gemeinwohl weiter zu entwickeln“. Auch die Finanzmärkte sollen wieder eine „dienende Rolle“ annehmen. Kapital soll der Realwirtschaft und damit den Lebensmöglichkeiten der Menschen – aller Menschen – dienen.

Die Verkörperung dieser idealistischen Vorstellung ist die „Soziale Marktwirtschaft“. Sie verbinde die Freiheit des Marktes mit sozialem Ausgleich. Sie ist quasi die „natürliche“ Wirtschaft. Denn ihr gelinge es am besten, die menschlichen Triebe und Leidenschaften wie Leistungswillen und Konkurrenzverhalten in den Dienst der ökonomischen Effizienz und des Gemeinwohls zu stellen und dabei noch Solidarität zu organisieren.

Diese „natürliche“ Wirtschaft meint jene, die die Barbarei des Nazifaschismus als Folge von Imperialismus und Kapitalismus alsbald vergessen machen und eine Alternative zum vergangenen Nationalsozialismus und zum Kommunismus sein sollte – übrigens auch, um allgemein erhobenen Sozialisierungsforderungen das Wasser abzugraben.
Die Strategie der Entsorgung der Erinnerung und die Verdrängung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Nationalsozialismus ging auf; die „Soziale Marktwirtschaft“ erschien als etwas ganz Neues, die endlich den Menschen in den Mittelpunkt stellte und mit dem alten Kapitalismus und seiner Krisen- und Verfallsform, dem Nationalsozialismus, nichts mehr zu tun hatte.

Nur ist das leider pure Ideologie - die falsche Wahrnehmung bloßer Erscheinungen des kapitalistischen Wesens. Denn das mörderische und unmenschliche Wesen des Kapitalismus ist es gerade, Kapital als Selbstzweck zu setzen: einen irrationalen, selbstbezüglichen und völlig a-sozialen Prozess in Gang zu setzen und zu erhalten, in dem aus Geld mehr Geld – eben Kapital – gemacht werden soll - und das auf immer und ewig und auf immer höherer Stufenleiter. Die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen durch Warenproduktion mittels Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen ist dabei nur Mittel zum irrationalen Selbstzweck. Ein „Selbstzweck“ kann aber schon dem Begriff nach nicht „dienen“. Diese Ökonomie hat Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ sehr treffend als eine „Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“ beschrieben. Es ist die „Wirtschaft, die tötet“ (Papst Franziskus).

Nur auf der Ebene der Erscheinung des kapitalistischen Wesens, des Marktes bzw. der Zirkulation zwischen Produktion und Konsumtion von Waren, von der das neue Sozialwort nur handelt, gibt es weder Ausbeutung, noch Konkurrenz, noch unbewußte Zwänge und überindividuell-systemische Herrschaftsformen. Hier, in der Welt des gerechten (Waren) Tauschs befindet man sich in der Gesellschaft der Freien und Gleichen, dem „wahren Eden der angebornen Menschenrechte“ (Marx).

Auch der (Sozial)Staat, der im Sozialwort zur Korrektur etwaiger Fehlentwicklungen aufgerufen wird, ist nicht das „ganz andere“ gegenüber dem Markt, sondern seine komplementäre Seite. Er hat die Widersprüche innerhalb und zwischen den Klassen der kapitalistischen Gesellschaft zu regulieren und insbesondere für den ununterbrochenen Selbstlauf der Kapitalakkumulation zu sorgen. Markt und Staat sind zwei Seiten der kapitalistischen Medaille.

Statt dass das Kapital den Lebensmöglichkeiten der Menschen dient, macht es diese von sich und seinem Selbstzweck abhängig und zu Konkurrenz-Subjekten, die seinen Imperativen teils bewusst, teils unbewusst, teils freiwillig, teils unfreiwillig folgen (müssen). Herrscher und Beherrschte verfallen gleichermaßen dem Kapitalfetisch, den sie selbst erzeugt haben. Dies zu durchschauen und abzuschaffen ist nur möglich durch radikale Kritik unter Beachtung der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung des Kapitals und mithilfe einer radikalen Praxis. Das scheint aber den Initiatoren des neuen Sozialwortes fremd zu sein und fern zu liegen. Sie schwimmen ja selbst wie die Fische im trüben Wasser des Kapitals.

Günther Salz
März 2014